Auf High-Heels stöckeln die beiden jungen Frauen durch die schicke Einkaufsstraße. In engen Jeans und Tops, die zwar kein Dekolleté zeigen, aber erkennen lassen, was sich darunter abspielt. Die streng geglätteten Haare schimmern in der Mittagssonne, die großen Sonnenbrillen verdecken das halbe Gesicht. Eine trägt ein Pflaster auf der Nase. Das heißt hier soviel wie: Da war gerade der Doktor dran.
In Kairo sagte mir einmal ein junger Mann, dass im Libanon Frauen nackt herum liefen. Nicht in der Stadt, okay, aber zumindest mal von der Haustür zum Strand. Der Libanon ist so etwas wie der arabische Männertraum. Auch wenn hier natürlich niemand nackt herumläuft. Aber die oft so komplizierte Beziehung zwischen dem männlichen und weiblichen Geschlecht, mit der junge Leute in den arabischen Gesellschaften konfrontiert sind, wird hier – zumindest oberflächlich – aufgebrochen.
Der Libanon ist ein faszinierendes Land. Und die Hauptstadt Beirut ist die komprimierte Version davon. Hier lebt ein Mix aus (vor allem maronitischen) Christen, Sunniten, Schiiten und anderen Religionen. Seit dem Ende des fürchterlichen Bürgerkriegs, der von 1975 bis 1990 andauerte, hat sich hier ein System etabliert, in dem zwar jeder ein wenig sein eigenes Süppchen kocht, aber alle an politischer Stabilität interessiert sind. So ist es wahrscheinlich zu erklären, dass der kleine Libanon sich nun schon seit fünfJahren ziemlich erfolgreich dagegen wehrt, in das Chaos des großen Bruders Syrien hineingezogen zu werden. Und das obwohl mittlerweile auf die vier Millionen Einwohner weit mehr als eine Million Flüchtlinge kommen. Touristen sind im Libanon verhältnismäßig sicher – und das Land am Mittelmeer ist eine Reise wert.
Es ist ein Freitagabend in Hamra, dem wohl hippsten Viertel im Westen von Beirut. Vor dem Bürgerkrieg galt die Hamra Straße als Anziehungspunkt für Intellektuelle und Künstler. Als eine Bastion des Liberalismus. Heute ist sie eine belebte Geschäfts- und Einkaufsstraße, und abends feiert hier die Jugend in den umliegenden Bars und Clubs. Es gibt hier das geflügelte Wort, das man zum Beispiel auch in Tel Aviv hört: Man feiert so ausgelassen, weil man nicht weiß, ob es das letzte Mal ist. Beirut, einst das Paris des Osten genannt, und heute sehr viel amerikanischer angehaucht, ist ganz ohne Untertreibung eine Partymetropole.
Jedenfalls für jene jungen Libanesen, die sich diesen Lifestyle leisten können. Am Abend umwerben die Männer in Luxus-Karossen von Mercedes oder Lamborghini die Damen, die in knappen Designer-Kleidern, stark geschminkt und auf noch höheren Hacken als am Nachmittag umherstolzieren. Zur Musik, die aus den Bars dröhnt, kommt ein dreisprachiges Stimmenwirrwarr aus Arabisch, Englisch und Französisch. Im Libanon werden sämtliche Klischees über den Nahen Osten oder islamische Länder im Allgemeinen aufgebrochen.
Natürlich hat Beirut viel mehr zu bieten als Party oder Protz. Man kann die Corniche entlang schlendern, einen Blick auf das Meer und den „Raouché“ (Taubenfelsen), das heimliche Wahrzeichen der Stadt, werfen und den Sonnenuntergang genießen. Oder man flaniert durch den neu errichteten Souq zwischen der Mohammed-al-Amin-Moschee mit ihrer türkisblauen Kuppel und dem Uhrenturm. In der Skyline der 1,5-Millionen-Metropole haben längst moderne Wolkenkratzer die vom Krieg zerschossenen Gebäude verdrängt. Auch das alte, orientalische Beirut ist kaum noch zu erkennen. „In der Stadt gibt es sogar eine Debatte über die ‚Dubaisierung’ Beiruts“, erzählt eine französische Studentin. „Letztendlich passt das zum Identitätsproblem im Libanon: Die Leute wollen nicht als Araber gesehen werden, sie sprechen Englisch und Französisch und bezahlen mit US-Dollars.“
Beirut muss man in seiner Vielfältigkeit zu erleben. Am einfachsten geht das, wenn man in den verschiedenen Stadtteilen unterwegs ist, sich kulinarisch und kulturell treiben lässt. Das christliche Gemayzeh, Hamra, das übrigens zum sunnitischen Teil gehört, oder das armenische Viertel Bourj Hammoud. Und wer dann genug hat von Großstadt, kann sich daran machen, den Rest des Landes zu entdecken.
Ein neues Weltwunder
Das Taxi, das seine Fahrgäste von der Küstenstraße zur Jeita-Grotte bringt, ist ein schöner alter Mercedes. Ein gut gepflegter Oldtimer, rot glänzend, der ganze Stolz seines Besitzers. Der zweite Stolz des Fahrers, so stellt sich heraus, ist die Grotte. „Sie ist eines der neuen Weltwunder“, erklärt er. Das ist zwar nicht ganz richtig, aber ein Funken Wahrheit steckt darin. Als 2011 bei einem großangelegten Online-Wettbewerb sieben neue Weltwunder gesucht wurden, landete die Tropfsteinhöhle 20 Kilometer nördlich von Beirut unter den 28 Finalisten in der Kategorie Natur.
Wenn man per Seilbahn den Rest des Weges vom Parkplatz zur Grotte zurückgelegt hat, darf man erleben warum. Zunächst geht es zu Fuß durch die Obere Galerie mit ihren bis zu 100 Meter hohen Hallen, dann mit dem Boot auf dem smaragdgrün schimmernden Fluss durch die Untere Galerie. Das Wasser hat aus dem Kalkstein über Jahrtausende eine gigantische unterirdische Kathedrale erschaffen – eben ein Wunder der Natur.
Die Natur hat es mit dem Libanon ohnehin gut gemeint: Da wäre das Mittelmeer, an dessen Küste sich das urbane Leben abspielt. Dahinter ragt das Libanon-Gebirge in die Höhe, in dem man im Winter Ski fahren kann. Und hinter diesem liegt die Bekaa-Ebene, bevor ein weiteres Gebirge die Grenze zu Syrien bildet.
Omdat onze gsm's absoluut in de lockers moesten baal ik enorm dat ik geen foto's kon nemen in Jeita Grotto.. wél een topervaring pic.twitter.com/QdsQo3XxmQ
— Ben Janbaz (@benjanbaz) 29. November 2016
Die Bekaa-Ebene ist landschaftlich besonders reizvoll, hier wird Wein angebaut, Oliven, Tabak, Obst und Gemüse. In der Stadt Baalbek stehen gewaltige römische Tempelanlagen, Unesco-Weltkulturerbe. Tausende Besucher strömen hier jedes Jahr zum International Festival, wo bereits Künstler wie Plácido Domingo, Sting oder die New Yorker Philharmoniker auftraten. Das Auswärtige Amt warnt jedoch derzeit vor Reisen in die Bekaa-Ebene.
Kaum ein Klischee, das der Libanon nicht aufbricht
So unheilvoll die jüngere Geschichte des Libanon ist, so stolz ist man auf die Vergangenheit. Im Wachsfiguren-Museum in Byblos, einem charmanten alten Hafenstädtchen, wird an die Phönizier erinnert, die in den zwei Jahrtausenden vor Christus im Gebiet des heutigen Libanon lebten. Die Phönizier waren eine Handelsmacht: Pioniere im Schiffsbau dank des Zedernholz aus dem Libanon-Gebirge, Vorreiter bei der Herstellung von Glas und sogar Erfinder der ersten Alphabetschrift. Im Wachsfigurenkabinett, das beileibe kein zweites Madame Tussauds ist, werden diese Errungenschaften ausführlich geehrt. Phönizianismus heißt sogar ein Konzept, das die Unabhängigkeit der libanesischen Identität von der arabischen beschreibt. Wo wir wieder bei der schwierigen Identitätsfindung wären.
Zum Abschluss dieser Reise geht es an den Strand. In drei bis vier Stunden kann man die Küstenstraße entlang von Tripolis im sunnitischen Norden bis Tyros im schiitischen Süden fahren. Der Libanon ist nur halb so groß wie Hessen. Entlang der Schnellstraße fallen die zahlreichen Werbebanner für plastische Chirurgie ins Auge. So wie anderswo Coca Cola beworben wird. Der Libanon soll die höchste Dichte an Schönheitsoperationen pro Einwohner haben – weltweit. Empirische Belege gibt es dafür aber nicht.
Im Südlibanon wird das letzte Klischee aufgebrochen. Hier ist Hisbollah-Gebiet, also Einflusszone jener berüchtigten schiitischen Miliz, der in der westlichen Öffentlichkeit stets die Attribute „terroristisch“ oder „radikalislamisch“ angeheftet werden. In der Fischerstadt Sidon (Saida) ist von Radikalität jedoch nichts zu spüren. Stundenlang kann man sich in den engen Gassen der Altstadt verlieren, in den kleinen Bäckereien eine Manouché, die libanesische Pizza, oder süßes Gebäck essen und in den Straßencafés eine Wasserpfeife rauchen.
Und bei einem Tag am Strand in Tyros (Sur) liegt die Radikalität maximal in der Normalität. Besonders wenn am Abend die Einheimischen die Promenade entlangjoggen. Männer und vor allem Frauen, manchmal mit Kinderwägen, manchmal mit Kopftuch – meistens jedoch ohne – stets sportlich körperbetont gekleidet. Nur nackt, liebe ägyptische Männer, sind auch sie nicht.
Zuerst erschienen in: Welt Kompakt vom 11.05.2015
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