Das Schild fällt nicht sofort ins Auge. Es sieht auf den ersten Blick aus wie all die anderen. Ein roter Kreis mit einem Männchen in der Mitte, durchgestrichen. Ein klassisches Verbotsschild. Doch der Teufel steckt im Detail – und das im wahrsten Sinne. Denn das Männchen steht entspannt zurückgelehnt, den Kopf leicht nach vorn gesenkt – und unterhalb des roten Querstrichs schießt in hohem Bogen ein Rinnsal zur Erde. „No urinating“ steht unmissverständlich darunter. Es ist ein indisches Verbotsschild.
Panaji, die Hauptstadt des kleinsten indischen Bundesstaats, Goa, ist ein Schilderwald. An jedem Laternenpfahl versucht die Stadtverwaltung eine Art Erziehungsauftrag ihren Bürgern gegenüber durchzusetzen. Und hat dabei Erfolg: Panaji ist sauber. Ein gepflegtes Städtchen, wenig Lärm, kaum Menschen. Mit nicht einmal 100.000 Einwohnern ist es eine quantitative Randnotiz in dem Land, das bei der letzten Volkszählung auf fast fünfzig Millionenstädte kam. Wer sich nur in Goa aufhält, kann das nicht wertschätzen. Wer hier nach langer Reise ankommt, fühlt sich wie ein Heimkehrender.
Vom 16-Millionen-Moloch in die pinke Stadt
Diese Reise beginnt in Delhi – denn wer Indien besucht, darf sich die kulturellen Schätze des sogenannten Golden Dreiecks nicht entgehen lassen. Die Paläste Jaipurs, das Taj Mahal in Agra – und eben Delhi. Die 16-Millionen-Metropole (Indiens Hauptstadt Neu-Delhi eingeschlossen) ist ein Moloch. Dreckig, laut und heillos überfüllt. Wer in Delhi ankommt, hat zwei Möglichkeiten: Sich einen Fahrer nehmen (was selbst für Low-Budget-Reisende nicht unbezahlbar ist) und sich die folgenden Tage durch das Goldene Dreieck kutschieren lassen, oder es auf eigene Faust versuchen. An Bussen und Zügen mangelt es nicht, auch wenn hinter dem Ticketkauf manch bürokratischer Wahnsinn steckt.
Wer sich allein ins Abenteuer stürzt, ist im indischen Großstadt-Wirrwarr ein unbeschütztes Wesen. Delhi hat wie jede Stadt bessere und schlechtere Ecken. Und in den schlechteren trifft man auf all die Abartigkeiten, für die der 1,2-Milliarden-Staat berüchtigt ist. Besonders im Kopf – und in der Nase – bleiben die an Hauswände geschraubten Pissoirs haften. Frei und offen hängen sie da und nebendran wird völlig selbstverständlich gekocht.
Oder es gibt eben gar keine Toilette – dann finden die Leute meist trotzdem ein Örtchen für ihre Notdurft; wir rufen uns das Schild aus Panaji in den Kopf und sparen uns weitere Details. Sich in die Hände eines Ortskundigen zu geben, schützt, und sich von einem Tuk-Tuk-Fahrer für ein paar Euro die Sehenswürdigkeiten zeigen zu lassen, ist eine gute Idee. Mit etwas Menschenkenntnis pickt man auch bestimmt denjenigen aus, der nicht nur von Souvenirshop zu Souvenirshop fährt.
Jaipur: Das Mädchen, das mich anspricht, ist vielleicht fünfzehn Jahre alt. Um ein Foto bittet es mich, der Rest der siebenköpfigen Großfamilie strahlt und zückt sämtliche Kameras und Handys, die für den Ausflug eingepackt worden sind. Wir sitzen im Schatten eines Baumes im Garten vor der alten Festung. Das Fort thront auf einem Berg hoch über der Stadt. Jaipur ist ein Traum für Romantiker, ein Palast schöner als der andere, die „pinke Stadt“ ist ein einziges Spiel aus Farben und Lichtern. Wer es sich heraussuchen kann, sollte erst nach Jaipur fahren und danach zum allerdings unerreichbaren Taj Mahal nach Agra. Die Inkarnation der Schönheit, sozusagen, als Höhepunkt zum Schluss.
Indische Gastfreundschaft ist skurril wie herzlich
Mit der indischen Familie sitze ich bald im klimatisierten SUV, als Stargast des Familientrips, und fahre von Tempel zu Tempel rund um Jaipur. Oder von Fotoshooting zu Fotoshooting. Aus den Boxen dröhnt indische Popmusik. Der Vater drückt mir eine Zigarette nach der anderen in die Hand. Die indische Gastfreundschaft ist skurril wie herzlich.
Englisch, das stellt sich nach und nach heraus, sprechen eigentlich alle ganz ordentlich. Doch die Unterhaltungen verstricken sich in mühsame Frage-Antwort-Spiele. Während man von den westlich orientierten Indern häufig regelrecht ausgequetscht wird, sind die traditionelleren Menschen recht schweigsam – oder mein Small-Talk ist schlecht.
Indien ist groß – so groß, dass sich kaum alles Sehenswerte in einer Reise unterbringen lässt. Aber einen Abstecher in den Süden sollte man sich nicht entgehen lassen. Der Süden Indiens ist quasi eine zweite Variante des gleichen Produkts. Das Essen schmeckt etwas anders, die Menschen sind ein wenig zugänglicher. Vom kommunistisch geprägten Bundesstaat Kerala kann man die Küste entlang über Goa nach Norden reisen und von Mumbai aus, der zweiten, aber wesentlich moderneren Megastadt neben Delhi, die Heimreise antreten.
Am Kai in Alappuzha reihen sich Hausboote aneinander. Die hölzernen Schiffe mit Dächern aus Bambus, je nach Budget in verschiedenen Größen und Ausführungen, sind das Beförderungsmittel für eine ganz private Kreuzfahrt durch das sogenannte Venedig Indiens. Die Backwaters sind ein weit verzweigtes Netz aus Flüssen, Seen und von Menschenhand angelegten Kanälen im Hinterland der Malabarküste in Kerala. Wer auf sein Boot (stets mit Kapitän und Koch) steigt, der fährt in eine paradiesische Welt hinaus. Das sanfte Wasser, unzählige Palmen am Uferrand, kleine Fischerhütten auf schmalen Landstreifen, wo die Einheimischen Netze flicken oder Wäsche waschen – alles strahlt eine für Indien ganz eigene Ruhe und Frieden aus.
Ruhe ist in Indien ein besonderes Gut. Das liegt zum einen daran, dass man fast immer von Menschen umgeben ist, zum anderen an eben diesen Menschen, die meist einen rastlosen Eindruck machen. Wer im Restaurant zu Ende gegessen hat, springt sofort auf und verlässt den Tisch. Weil Fußgängerzonen gar nicht und Gehwege kaum existieren, ist man stets dem Stress des völlig verrückten Straßenverkehrs ausgesetzt. Die innere Ruhe gefunden haben eigentlich nur die Kühe, die sich – ihrer Unantastbarkeit durchaus bewusst – selbst im Großstadttrubel auch mal einfach auf die Straße legen.
Der Mensch findet Ruhe in den Tempelanlagen, wo meistens mehr Affen als Menschen um ihn herumtoben. Oder am Strand.
Mit dem Roller durch Goa
Goa: Die Straße hat längst diese Bezeichnung nicht mehr verdient. Ein staubiger Pfad, auf dem man geschickt und mit voller Konzentration seinen Motorroller um Schlaglöcher und Steine lenken muss. Ein Reifenschaden hier draußen im Nirgendwo könnte ungemütlich werden. Irgendwann geht es durch ein Wäldchen, und plötzlich steht man auf den Klippen und blickt aufs Meer. Links und rechts reihen sich kleine Buchten aneinander, ein paar Fischerboote liegen an den Stränden, die menschenleer sind.
Man kann Wochen damit verbringen, mit dem Roller Goa zu erkunden. Man entdeckt immer wieder neue Buchten, manche mit kleinen Hotelanlagen, andere voller Kühe oder solche, die Treffpunkt der Einheimischen sind. Je abenteuerlicher die Anfahrt, desto größer ist die Chance, auf einsame Flecken zu treffen – bedingt natürlich durch die Saison, in der man reist. Goa zieht seit jeher Aussteiger aus aller Welt an. Man versteht sofort, warum.
Am letzten Abend sitze ich in Palolem in einem Restaurant am Wasser. Wenn Gott einen perfekten Strand zeichnen würde, Palolem käme dem sehr nahe. Ein sichelförmiger, breiter Sandstrand, dahinter Palmen soweit das Auge reicht, in deren Schatten Bambushütten die Touristen beherbergen. Draußen im Meer schwimmen Delphine. Der Koch hat einen kleinen Hai auf den Grill gelegt, die Wellen brechen leise, am Himmel funkeln die Sterne. Für einen Moment ist Indien zur Ruhe gekommen.
Zuerst erschienen in: Welt Kompakt vom 20.04.2015
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