Aus dem Leben eines Scouts

Gianni Gullo kann auf eine bewegte Karriere zurückblicken. Seit mehr als 30 Jahren ist der Italiener als Scout unterwegs, hat für Juve, Milan und den OGC Nizza Spieler wie Zidane, Vieira oder Neymar gesichtet. Und doch  gibt es etwas, mit dem der 61-Jährige im Spätherbst seiner Laufbahn hadert.

Giovanni Gullo, von allen nur Gianni gerufen, ist ein Entertainer. Weil er immer einen lockeren Spruch auf den Lippen hat, weil er mit dem Schicksal hadert, wie es nur Italiener können, und weil er ein unerschöpfliches Repertoire an Fußballanekdoten hat. Gianni hat Fußballgeschichte mitgeschrieben. Als Scout war er viele Jahre lang das Auge von Juventus Turin und dem AC Mailand in Frankreich.

 

Er sagt, dass die Verpflichtungen von etlichen französischen Spielern wie Deschamps, Desailly, Vieira, Djorkaeff oder Henry auf sein Konto gingen. Manche waren zuvor mehr, manche weniger bekannt. Die einen schlugen ein, andere nicht. Und Gianni kann das alles beweisen, denn bei aller italienischer Heiterkeit, steckt in dem 61-Jährigen auch ein kleiner Pedant.

 

Bei einem Turnier in Kamerun, bei dem ich ihn kennenlernte, hielt er mir eines Abends sein Smartphone hin. Fein säuberlich waren dort in den Dokumenten alle Berichte abgespeichert, die Gianni während seiner langen Karriere verfasst hatte, wenn ihm ein Spieler so gut gefiel, dass er ihn seinem Arbeitgeber empfehlen wollte. Und so scrollten wir gemeinsam durch ein Stück Fußballgeschichte.

 

Aus dieser Begegnung ist eine Reportage für die "Welt" geworden ("Der Mann, der Zinedine Zidane entdeckte", Die Welt vom 18.02.2017), die ich hier noch einmal aufbereite. Voilà, wie Gianni sagen würde:

 

Der Mann, der Zinedine Zidane entdeckte

 

Sein besseres Gedächtnis trägt Giovanni Gullo in der rechten Hosentasche. Er zieht sein Smartphone heraus, entsperrt es mit dem Abdruck seines Zeigefingers und öffnet den Ordner mit den Dokumenten: Milan e Juventus 1980 – 2014. Er scrollt durch die Dateien, vorbei an Titeln wie 1984 Didier Deschamps, 1996 Victor Agali oder 2001 Cristiano Ronaldo. „Voilà“, sagt Gullo, dessen italienischer Akzent im Französischen selbst in so kurzen Ausdrücken nicht zu überhören ist. Er klickt auf: 1989 Zinedine Zidane.

 

„Das wichtigste für einen Scout ist sein Netzwerk“, holt Gullo aus, „eines Tages rief mich der Hausmeister des AS Cannes an, mit ihm hatte ich mich schon immer prächtig verstanden. Er sagte: ‚Gianni, du musst dir einen Jungen ansehen, der Sachen mit dem Ball anstellt, die unglaublich sind.‘ Also bin ich hingefahren.“

 

Am 18. Mai 1989 sitzt Gullo im Stadion des FC Nantes. In der 78. Spielminute wechselt Cannes‘ Trainer den 16-jährigen Nachwuchsspieler mit dem poetischen Namen ein: Zinedine Zidane. Eine knappe Viertelstunde später, bei Schlusspfiff, ist sich Gullo sicher, welche Empfehlung er seinem Arbeitgeber, dem italienischen Rekordmeister Juventus Turin, übermitteln würde. Gullo deutet auf den letzten Satz in dem Dokument. In Großbuchstaben steht da: „PRENDERE“ – nehmen!


 

Siebenundzwanzig Jahre später sitzt Gullo auf einer kleinen Tribüne an der Längsseite eines Fußballfeldes in der südkamerunischen Stadt Limbe. Graue, nach oben geföhnte Haare, wache Augen. Seine Lesebrille hat er auf die Stirn geschoben, von wo aus sie in regelmäßigen Abständen zurück auf die Nase rutscht. In den Ohren stecken In-ear-Kopfhörer, die er nie herausnimmt, weil er so, ohne sein Handy in die Hand nehmen zu müssen, Anrufe entgegennehmen kann. Denn bei Gullo klingelt es beinahe unaufhörlich. Der 61-jährige Italiener wirkt manchmal wie eine schelmische Karikatur, der nur hübschen Frauen noch lieber zuschaut als talentierten Fußballspielern.

 

Lieber Scout als Berater

 

Einen zweiten Zidane hat Gullo in den Tagen des Jugendturniers von Limbe noch nicht entdeckt, stattdessen gibt es einigen Grund zur Beschwerde: Der Platz – „un désastre“, die Darbietungen einiger Teams – „terrible“ und dazu einige Spieler, die wesentlich älter aussehen, als sie zu sein vorgeben. Doch gerade, als man denkt, der alte Italiener ist heute schlecht gelaunt und in seinen Gedanken längst woanders, raunt er einem zu: „Regarde, die Nummer 3 im grünen Trikot. Wir müssen dem Trainer sagen, er soll ihn auf die rechte Seite schieben. Der ist zu klein für die Innenverteidigung.“ Sagt es, springt auf und weist den Trainer an, der ehrfürchtig nickt und sofort umstellt. Gullo ist zufrieden.

 

 

Der Italiener, mehr als 30 Jahre lang als Scout des AC Mailand beziehungsweise Juventus Turin vorwiegend in Frankreich unterwegs und seit vergangenem Jahr beim OGC Nizza angestellt, ist nicht der einzige seiner Zunft, der in jenen Tagen kurz vor Weihnachten nach Kamerun gereist ist. Spielerbeobachter des AS Monaco, von Olympique Lyon, Girondins Bordeaux, Atalanta Bergamo und sogar Manchester United sind zu dem Turnier gekommen. 

 

Alle auf der Suche nach dem einen Supertalent, und alle wissen, dass die Träume vom Profifußball in Europa für die meisten der rund 800 anderen Kinder und Jugendlichen wohl auf ewig unerfüllt bleiben.

 

Die Reisegruppe aus Europa ist sich auch schnell einig, wer das größte Juwel auf dem holprigen Geläuf ist. Ein 17 Jahre alter Stürmer von der gastgebenden Mannschaft „Brasseries“, der wohl besten Nachwuchsschule Kameruns. Dessen zukünftiger Berater sitzt zufrieden auf der Tribüne, es ist ein ehemaliger Nationalspieler Benins, der einen engen Draht zu „Brasseries“ pflegt und deren beste Talente unter seine Fittiche nimmt.

 

Ist es nicht unfair, dass dieser Berater mit dem Jungen, sollte er ein bekannter Spieler werden, einmal Unsummen von Geld verdienen kann? Gullo winkt ab. „Das sind verschiedene Jobs. Ich als Scout schaue mir Spieler an und gebe meine Empfehlung ab, damit ist es für mich erledigt. Ich schlage mich nicht mit Verhandlungen und Transfers herum“, sagt er.


Seine Kollegen, wie Gullo ehemalige Profis, sehen das ähnlich: Ein fester Vertrag, Spesen, überschaubarer Druck und Planungssicherheit seien viel wert. Und am Hungertuch nage auch keiner.

 

Kein Glück mit Neymar, ein Coup mit Balotelli

 

Trotzdem ist es ein Traumjob, der einen manchmal verzweifeln lasse, sagt Gullo. So wie 1989, als Gullos Empfehlung, den jungen Zidane zu holen, von den Juve-Bossen ignoriert wurde. Ein Fehler, den die Alte Dame schließlich sieben Jahre später und einige Millionen teurer ausbesserte – und Gullo so immerhin ein wenig Genugtuung verschaffte. Auf sein Konto, sagt Gullo, gingen die allermeisten Franzosen, die der AC Mailand und Juventus Turin seit den 1980er Jahren holten: Didier Deschamps, Marcel Desailly, Patrick Vieira, Thierry Henry oder – der letzte – im Jahr 2012, M‘Baye Niang, mittlerweile auch Stammspieler bei Milan.

 

Und trotzdem sei er 2010 von einer Brasilien-Reise mit einer klaren Kaufempfehlung für den jungen Neymar zurückgekommen, erzählt Gullo, nicht ohne zum Beweis das entsprechende Dokument auf seinem Handy aufzurufen. „Und wieder einmal bin ich auf taube Ohren gestoßen“, ärgert sich Gullo noch heute über seine damaligen Vorgesetzten in Mailand, „incroyable“.

 

Das ärgerlichste an seinem Beruf sei, dass ihm keine öffentliche Anerkennung zuteilwerde, sagt Gullo. Leiste sich ein Verein einige Fehleinkäufe, heiße es schnell, die Scoutingabteilung müsse neu aufgestellt werden. Schlage ein Neuzugang hingegen ein, ließen sich Manager und Sportdirektor feiern. Kein Wort über den Scout, der den entscheidenden Hinweis gegeben hatte.

 

In manchen Momenten ist sogar ein wenig Bitterkeit zu spüren bei Gullo, dessen Karriere sich auf der Zielgeraden befindet. Vielleicht, denkt er laut nach, wird er ein irgendwann Buch schreiben, um all die Geschichten zu erzählen, die keiner kennt: Zidane 1989, Neymar 2010 oder, ganz besonders, Balotelli 2016.

 

Dass das italienische Enfant terrible kurz nach ihm zum OGC Nizza wechselte, sei nämlich kein Zufall, sagt Gullo. Und zum Beweis kramt er auf seinem Handy die Whatsapp-Chatverläufe mit Balotellis berüchtigtem Berater Mino Raiola hervor. Im vergangenen Frühjahr hatte Gullo Raiola bereits gefragt, ob Nizza nicht etwas für den Skandal-Stürmer wäre. Als der schließlich bejahte, ging Gullo zum OGC-Präsidenten und überzeugte ihn von der Idee, die Ende August umgesetzt wurde.

 


In den französischen Medien sei dieser Teil der Geschichte jedoch unterschlagen worden, sagt Gullo verärgert. „L’Equipe“ schrieb, dass sich Balotelli über einen früheren Mitspieler bei Nizzas Matthieu Bodmer erkundigte. „Als ob Balotelli von sich aus auf Nizza gekommen wäre“, sagt Gullo sarkastisch, „impossible.

 

Der herzkranke Agali

 

Es ist später Nachmittag und mittlerweile das achte und letzte Spiel des Tages. Allzu viele Notizen hat Gullo sich nicht gemacht. Mit der kleinen Nummer drei, der als Rechtsverteidiger tatsächlich zu gefallen wusste, ist er kurz hinter die Tribüne verschwunden, hat sich Größe, Gewicht und Telefonnummer aufgeschrieben. Er sei zwar nichts für Nizza, sagt Gullo, er werde ihn aber einem befreundeten Spielerberater empfehlen.

 

Für den Nachwuchsstürmer der „Brasseries“ hingegen wird er später im Hotel einen Bericht verfassen und seinem Sportdirektor eine Kaufempfehlung abgeben. Dann wird es um die besseren Argumente der Vereine und nicht zuletzt ums Geld gehen, denn auch Monaco und Lyon haben ihr Interesse angemeldet. Doch damit hat Gullo dann nichts mehr zu tun.

 

Im knallroten Minibus auf dem Rückweg zum Hotel bleibt Zeit für eine letzte Anekdote. Wie war das mit dem späteren Bundesliga-Star Victor Agali? Gullo lacht. „Der Junge war Torschützenkönig in Nigeria, mit 17 Jahren! Ein großes Talent. Ich habe ihn zum Probetraining nach Mailand gebracht. Das lief auch gut, nur den Medizincheck bestand er nicht. Probleme mit dem Herzen, sagte der Mannschaftsarzt. Eine Profikarriere? Impossible.“

 

Mit dem Auto seien sie daraufhin nach Südfrankreich gefahren, erzählt Gullo, da habe er Agali gefragt, ob er Medikamente nehme. „Es stellte sich heraus, dass er ein zwar gängiges Mittel gegen Malaria nahm – allerdings in viel zu hoher Dosis. Er dachte wohl, wenn er fünf Pillen schlucke statt einer, wirke es besser.“ Bald darauf unterschrieb der nun richtig medikamentierte Agali bei Olympique Marseille.

 


Als sich Gullo am Abend auf sein Hotelzimmer zurückzieht, um seinen Bericht für den kamerunischen Nachwuchsstürmer zu verfassen, weiß er noch nicht, dass es sich diesmal lohnen sollte. Denn das begehrte Talent wird einige Wochen später tatsächlich in Nizza unterschreiben. Und wer weiß? Vielleicht wird Gullo in ein paar Jahren sein Smartphone aus der Hosentasche holen und triumphierend ein Dokument heraussuchen: 2016 Ignatius Ganago.

 

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