Ob der bekannteste Besucher Äthiopiens wirklich jemals den Boden des ostafrikanischen Landes betrat – daran gibt es einige Zweifel. Dabei ist der vermeintliche Gast eine globale Berühmtheit. Doch von der Begebenheit, die vor rund 2000 Jahren stattgefunden haben soll, hat man im Rest der Welt noch nichts gehört.
In Äthiopien dagegen wird sie voller Stolz erzählt: Kein Geringerer als Jesus Christus sei als Kleinkind zehn Tage lang in dem Land gewesen. Das sagen jedenfalls die Überlieferungen der Äthiopisch-Orthodoxen Tewahedo-Kirche. Auf der Flucht vor dem Tötungsbefehl des König Herodes sollen Josef, Maria mit dem Jesuskind bis nach Äthiopien gereist sein – und nicht nur, wie allgemein bekannt, nach Ägypten.
Zweifel oder gar Widerspruch duldet der Priester auf der kleinen Insel mitten im Tanasee im Norden Äthiopiens nicht. Ein katholisches Pärchen aus Frankreich hatte mehr als einmal nachgehakt. Das seien „historische Fakten“, versichert der Priester. Basta. Und wozu auch Diskussionen? Die Legendenbildung um den Besuch Jesu vermittelt vielmehr einen Eindruck von der äthiopischen Mentalität. Denn wer dieses arme Land besucht, trifft hier auf ein umso stolzeres Volk.
Der Tanasee ist der Ausgangspunkt einer Reise in den Norden, in das Hochland Äthiopiens. Herzstück des einstigen äthiopischen Kaiserreichs Abessinien, „Heiliges Land“ für die äthiopischen Christen – und alles eingebettet in eine atemberaubende Natur.
Tradition und Moderne
Unweit der runden Kirche prangt ein Coca-Cola-Schild an einer Palme. Die langen Arme der westlichen Konzernriesen ragen bis in diese entfernten Winkel der Welt hinein. Die Kaffeebauern der Insel erzählen, dass Starbucks ihre Bohnen zu den eigenen Mischungen gibt. Ein ganz kleiner Anteil, und schon könne der Kaffee als „Bio“ und „Fair-Trade“ verkauft werden. Starbucks könnte dafür wenigstens einen besseren Preis zahlen, beschweren sie sich. Aber wer kann sich schon wehren?
Mit dem Boot geht es zurück aufs Festland. Unweit schwimmt ein Nilpferd. Der Bootsführer schaltet den knatternden Motor aus, um sich dem mächtigen Kopf zu nähern, der immer wieder aus dem Wasser schaut, mit den Ohren wackelt und schnaubt.
Als das Tier näher kommt, hat es der Kapitän dann aber eilig, wegzukommen. Man weiß nie, ob es nicht ein Muttertier ist, erklärt der Guide James. Die könnten äußerst aggressiv werden, und würden nicht zögern, die kleinen Boote zu attackieren.
Im Tanasee entspringt der Blaue Nil. Noch so ein Grund, stolz zu sein: Der längste Fluss der Welt, die Lebensader Ägyptens, hat seinen Ursprung – zur Hälfte jedenfalls – in Äthiopien. Der Blaue Nil fließt einige Kilometer durch die Savanne, bevor er nahe dem Dorf Tisissat, 42 Meter in die Tiefe stürzt. Die „Blue Nile Falls“ sind die zweitgrößten Wasserfälle Afrikas.
Die Wanderung dorthin führt über alte Stein- und neuere Hängebrücken, die die Verbindung der kleinen Dörfer zur Außenwelt sind. Die Wege sind schmal und holprig, Bauern treiben vollbepackte Esel voran, Frauen tragen große Körbe auf den Köpfen. Es tut gut, den Einheimischen nahe zu kommen. Während der vielen Fahrten im Auto oder Minibus, die so eine Reise mit sich bringt, kommt man sich manchmal vor wie in einer TV-Dokumentation.
Zwei Kaiser und zwei Läufer
James nimmt uns am Abend in seinem Minibus mit nach Gondar, weiter hoch in den Norden. Er diskutiert über den europäischen Fußball. Besonders die englische Premier League hat es ihm angetan. Mit seinem Wissen hätte er keine Probleme in einem Londoner Pub als wahrer Fan akzeptiert zu werden. Doch eine Reise nach Europa sei utopisch, sagt James. Auf ein Visum habe er keine Chance.
Dann sprechen wir über Äthiopien. Vier Männer werden hier besonders verehrt, erklärt James: Zwei Kaiser und zwei Leichtathleten. Menelik I., Sohn des biblischen Königs Salomon und der Königin von Saba, gründete angeblich 980 v. Chr. das Kaiserreich Abessinien.
Menelik brachte den Überlieferungen nach auch die Bundeslade nach Äthiopien. In ihr sollen die Steintafeln mit den zehn Geboten liegen, die Moses von Gott erhielt. Die in der Bibel beschriebene Truhe soll sich heute in der Stadt Axum befinden. Doch auch diese Geschichte lässt sich nicht beweisen. Zahlreiche Mythen und Theorien ranken sich um den Verbleib der Bundeslade. Äthiopier schütteln darüber nur den Kopf.
Haile Selassie war der letzte Kaiser, er musste 1974 nach einem Militärputsch abdanken, starb bald darauf unter ungeklärten Umständen. Haile Selassie wird die Modernisierung des Landes zugeschrieben. In der kollektiven Erinnerung verblasst scheinbar sein absolutistischer Regierungsstil, wegen dessen er letztlich gestürzt worden war.
Der Stolz des modernen Äthiopiens sind die Langstreckenläufer Kenenisa Bekele und vor allem Haile Gebrselassie, die das arme Land in großer Regelmäßigkeit zu olympischen Ehren führten. Laufen ist in Äthiopien Volkssport, und wer hier reist, versteht, warum. Denn die meist kilometerlangen Strecken von Dorf zu Dorf werden in der Regel zu Fuß zurückgelegt. Kinder zur Schule, Bauern auf die Felder, Frauen, Junge und Alte. Die Männer tragen dabei stets einen Gehstock auf den Schultern, an dem sie die Arme hängen lassen.
Der Jäger verbringt einen ruhigen Tag
Von Gondar aus geht es ins Gebirge. Für die Wanderung im „Simien Mountains National Park“ muss sogar ein Jäger mit – für den Fall, dass Leoparden auftauchen. In den Simien Mountains reihen sich mehr als ein Dutzend 4000 Meter hohe Berge aneinander. Die Berggipfel und die tiefen Schluchten sind spektakulär, die Luft dünn, aber angenehm frisch. Es ist einsam auf dem „Dach Afrikas“. Auch Leoparden sieht man hier nur äußerst selten. Zweimal sagt Dizzy, der leichtfüßige Guide, sei er den Raubkatzen begegnet. In zehn Jahren.
Dafür gibt es jede Menge Affen, genauer Dscheladas, mit pinken Gesichtern und noch pinkerem Hintern. Eine seltene Art, eng verwandt mit Pavianen, die es nur hier im äthiopischen Hochland gibt. Die Dscheladas sind zwar nicht scheu, aber auch nicht aggressiv. Der Jäger hat einen ruhigen Nachmittag. Bei den Menschen aus den umliegenden Dörfern, sagt Dizzy, gelten die Affen als Delikatesse. Und ja, er lacht, da kommt auch unser Jäger her.
Auf dem Rückweg fällt uns die neu gebaute Straße auf, hier und da sieht man noch Planierraupen oder Walzen stehen. „Chinesen!“, ruft Dizzy, um sich dann über die Wanderarbeiter aus Fernost zu ärgern. Die lokalen Politiker würden Verträge mit den Chinesen schließen, die für Abbaurechte von Rohstoffen Straßen bauen. Und die seien obendrein schlecht, schließt er aufgebracht.
Äthiopien ist das einzige Land in der Subsahara-Region, das, bis auf ein kurzes italienisches Intermezzo, nie unter kolonialer Herrschaft stand. Das ist wahrscheinlich der Hauptgrund für den sympathischen Stolz. Und umso mehr lehnt man heute neo-kolonialen Einfluss aus dem Reich der Mitte ab.
Ein neues Jerusalem
Die letzte Station dieser Reise ist Lalibela. Die heilige Stadt mit ihren einzigartigen Felsenkirchen ist nur einen kurzen Flug von Gondar entfernt. Wer das Kirchenareal betritt, muss jedoch aufpassen: Mitten im Boden tut sich auf einmal ein Krater auf – und in dessen Mitte steht die Kirche des Heiligen Georg, Bet Giyorgis. In der Form eines griechischen Kreuzes, zwölf auf zwölf Meter, zehn Meter hoch.
In einem Stück wurde das Gotteshaus aus dem Felsen geschlagen – wie auch die anderen Kirchen. Allesamt Meisterwerke der Architektur. Kaiser Lalibela ließ sie im 12. und 13. Jahrhundert errichten, der Legende nach wollte er ein „Neues Jerusalem“ erschaffen.
Lalibela vermittelt noch heute einen authentischen Eindruck dieser alten Zeiten. Die meisten Bewohner leben in kleinen runden Holzhütten, oft ist eine Kuh vor der Türe angebunden. Einmal in der Woche werden auf dem Marktplatz Waren gehandelt, ansonsten liegt das Städtchen weit abgelegen vom Rest der Welt in den Bergen. Und kaum irgendwo geht die afrikanische Sonne so schön unter wie hinter diesen Gipfeln ringsum Lalibela.
Zuerst erschienen in: Welt Kompakt vom 04.05.2015
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